
Erst draußen vor der Stadt begann sie vollumfänglich zu begreifen, was in den Parks nur ansatzweise schon erahnbar war: Der Sommer hatte seinen Zenit überschritten und war dabei vorüber zu gehen. Vereinzelt, wie verlorene Puzzlestücke, fügten sich die Anzeichen dafür hier, vor den Stadttoren, zu einem Gesamtbild und alles wurde klar. Astern in Blumenrabatten des Parks, Dahlien in den Vorgärten des Jugendstilviertels. Hier draußen zog nun der Hochsommer an ihr vorüber, wie ein großes Ausrufungszeichen, als ob das Bild plötzlich scharfgestellt worden wäre.
Sie sah nicht nur die spätsommerliche Landschaft hinter ihrem Motorradhelmvisier, sie fühlte sie. Es war ein Kribbeln, das sich in ihrem Körper breitmachte.
Am Aussichtspunkt hielt sie an, stieg ab und zog den Helm vom Kopf. Die Luft roch nach heißer, von Sonne aufgeheizter Erde und nach trockenem Gras. Der Hauch von Minze lag zart in der Luft.
Hochstehender Mais – ein schon abgeerntetes Weizenfeld, das sich groß vor und unter ihr ausbreitete – hatte sich in ein Stoppelfeld verwandelt. Für einen Augenblick sah sie sich selbst als Kind in einer Horde von Kindern über dieses Feld rennen, sah den Staub, fühlte noch einmal die Unebenheiten und die Eile, mit der sie, die Jüngste der Gruppe, hinter den anderen her gerannt war. An ihrer Seite, ihre treue drei Jahre ältere Freundin Margit, die die Rolle der großen Schwester bei allen Ausflügen übernommen hatte.
Der Waldrand drüben schien satt grün und dunkel. Sie kniff die Augen zusammen und entdeckte den fast noch unmerklichen Beginn der Verfärbung des Laubs.
Etwas unterhalb die alte Apfelplantage von Gustav. Die Äste bogen sich unter den reifenden Äpfeln: Sie wusste noch die einzelnen alten Sorten, die dort wuchsen: Goldparmäne, später Boskop, dann die dunkelroten allerspätetesten Holzäpfel.
Wie ihr alter Herr war Gustav schon seit einigen Jahren tot. In diesem Moment war ihr, als säßen die beiden, wie zu Lebzeiten oft, nach getaner Arbeit auf ihren Klappstühlen, eine Pfeife rauchend und ein Bier trinkend.
Sie zog die schweren Motorradstiefel aus und streifte ihre Socken ab. Barfuß und mit knarzender Lederhose folgte sie dem schmalen Pfad hinab zum Weiher. Die Sonne brannte noch heiß auf ihren Rücken, doch eine kühle Brise zog vom Wald her und trocknete den Schweiß auf ihrem Nacken. Am Weiher stand die alte verwitterte Bank noch. Dort hatten sie als Jugendliche oft gesessen, das erste Mal Bier getrunken, die erste Zigarette ihres Lebens geraucht – es waren nur wenige gefolgt. Der erste Kuss – von ihrer Jugendliebe Johann. Libellen schwirrten über den Teich und kündigten den baldigen Herbst an. An der Böschung fing das lila Heidekraut an zu blühen.
Sie fühlte das stachlige Gras unter den Fußsohlen, lauschte mit geschlossenen Augen den Geräuschen des Nachmittags auf dem Land, roch warme Erde und das brackige Wasser des Teichs.
Später, als sie den Pfad wieder nach oben stieg, tauchte die sinkende Sonne die Hügel in ihr goldenes, warmes Licht. Sie dachte an Novembernebel, der über die Hügel zog, an kalten Nieselregen. Doch jetzt, jetzt, war noch Sommer.