Jenseits der Wälder

Prolog

USA

Die Orgel setzte gleichzeitig mit den Trommeln ein und erfüllte die kleine Kirche. Sie war bis auf den letzten Platz belegt. Nicht nur die Alten waren gekommmen, sondern auch viele Jüngere, alle waren sie festlich gekleidet, um Greta Enola, der alten Indianerin die letzte Ehre zu erweisen. Nach dem Gesang der Gemeinde erklang ein Lied in Lakota, der Sprache der ansässigen Natives. Einige Frauen, die sich vorne neben dem Sarg aufgestellt hatten, sangen mit geschlossenen Augen, begleitet nur von den Trommeln, die zwei Männer am Altar schlugen. Die alte Dame lächelte, als sie den Worten des Pfarrers lauschte. Ihr Blick traf den alten, weißhaarigen Mann, der neben ihr saß und ihr mit Tränen in den Augen zulächelte. Greta hätte diese Feier gefallen, denn für sie war alles eins gewesen. Sie hatte sich geborgen gefühlt: Draußen in der Natur genauso wie in der Kirche der Weißen. Abends, die Dämmerung war schon vorüber und es war empfindlich kalt, erklangen wieder Trommeln und der Schein eines großen Feuers erhellte die Lichtung oben in den Bergen. Gesang ertönte, doch er war lauter, wilder und vielstimmiger als der in der Kirche am Mittag. In der Mitte der Tanzenden und Singenden saß eine Alte, klein und faltig wie eine verdorrte Pflaume, und sang mit einer erstaunlich kräftigen Stimme immer wieder: „Jolanda – Onatha“. Die anderen fielen in ihren tranceähnlichen Singsang mit ein, eingige bewegten sich im Rhythmus der Trommeln um das Feuer, erst langsam, dann schneller und sangen, sangen stundenlang ihre Weisen, die meisten traurig und dennoch voller Kraft. Am Ende jeder Strophe folgte der Ruf nach „Jolanda Onatha“, „Greta Enola“, „Jolanda Onatha“…. Zuweilen war nur noch ein beschwörendes Murmeln zu hören, dann wieder schwoll der Ruf laut an und drang bis tief in die Wälder und darüber hinaus. Die Trommel bebte wie ein Herzschlag durch ihre Körper.

Deutschland

Endlich! Sie rannte los. Durch den Park zum Waldrand, in den Wald, den kleinen Hügel hinauf. Sie spürte die noch kühle Nachtluft und roch den würzigen Duft des Waldes. Wie immer, wenn sie hier war, erfüllte sie Lebendigkeit. Nicht reden, nicht denken, einfach laufen, einen Fuß vor den anderen setzend. Die Blätter an den Bäumen hatten vor einiger Zeit begonnen auszutreiben. Wie jedes Jahr war ihr der Winter lange vorgekommen, doch auch dieses Jahr war der Frühling gekommen und überzog alles mit einem zarten Grün. Noch einige weitere Tage, dann würden die Blätter ausklappen wie kleine Regenschirme. Jedes Jahr freute sich Anda besonders auf diese Tage. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich als Kind wünschte, dieses Ausklappen der Blätter einmal beobachten zu können, dann, wenn es passierte. Wie in einem Naturfilm, den sie einmal angesehen hatte, wo sie das Wachstum von Pflanzen in Zeitraffer gezeigt hatten. Doch die Blätter öffneten sich immer unbeobachtet: An einem Tag waren sie noch zusammengefaltet, am nächsten dann offen. Nicht völlig, aber weitestgehend. Sie spürte, wie der Druck in ihrem Magen langsam nachließ. Sie lief weiter und versuchte die Gedanken abzustellen, die ihr immer wieder in den Sinn kamen. Dann hatte sie ihren Rhythmus gefunden, lauschte ihrem Atem, und hörte ihre Schritte auf dem Pfad: Das war genau der Moment, den sie so liebte: Nur sein, atmen, laufen, nichts sonst. Der Alltag schien weit weg und damit auch all die Probleme. Etwas drang an ihr Ohr: „Jolanda — Onatha, Jolanda- Onatha“. Dann etwas anderes, ebenso eindringlich, was sie erst nicht verstand, sich dann aber wie“Greta Enola“ anhörte. Die nächsten paar Schritte glaubte sie noch sich geirrt zu haben. Lag es daran, dass sie vorhin an ihre Mutter gedacht hatte? Niemand nannte sie so; nur ihre Mutter hatte sie bei ihrem vollen Namen genannt — Jolanda — und die war lange schon tot. Nochmals: „Jolanda — Onatha“. Ihr Herz hämmerte plötzlich wie ein wilder Trommelschlag. Sie kam aus dem Takt, hielt an und schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Wasser.

„Was ist nur los mit mir?“ sie sagte es halblaut, um sich selbst zu hören.

Jetzt hörte sie nichts mehr außer den üblichen Waldgeräuschen und die Autos, die auf der nahegelegenen Straße entlangfuhren. Unruhe machte sich in ihr breit. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass sie seltsame Dinge sah und hörte, die gar nicht da waren… Sie holte tief Luft und nahm sich vor sich vor, sich nicht so verrückt zu machen. Das befreite Gefühl war jedenfalls weg und sie lief wieder los, einfach, um sich zu normalisieren. Sie entschloss noch eine Wegbiegung oben entlang zu nehmen und stand plötzlich vor ihrer alten Nachbarin. Verblüfft blieb sie stehen und begrüßte die knapp 80jährige, die ihr, auf ihre Walkingstöcke gestützt, entgegensah, als hätte sie auf sie gewartet.

„Sie müssen gehen“… Sie sah sie eindringlich an: „Gehen sie!“. Und schon wandte sie sich wieder ab und zog weiter.

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