Fatma

Wir lernten uns in einem Sportstudio im Odenwald nahe Heidelberg kennen: Sie gab einen Kickboxkurs und nach ein paar Stunden kamen wir ins Gespräch. „Mit meinem Leben bislang könnte ich schon ein Buch füllen“, sagte sie nebenbei in der Umkleide. Ich war derzeit gerade dabei, mein erstes Buch zu verfassen, ein Sachbuch über das Thema „Trailrunning“, das Fatma auch interessierte. Ich überlegte nicht lange und bot ihr an: Du hast viel zu erzählen, ich schreibe, lass uns doch einmal zusammen sitzen und schauen, ob wir daraus etwas machen.

Ein paar Wochen später begannen wir uns zu treffen. Nach und nach erzählte sie mir ihre Geschichte. Das war nicht immer einfach für sie. Über vieles hatte sie bislang geschwiegen, zu aufwühlend und zu verletzend die Erinnerung daran. Über ihre Passion und ihr großes Talent im Kickboxen und Boxen sprach sie gerne. Anderes war fest verschlossen in der Vergangenheit und mühsam und schmerzhaft für sie hervorzuholen. Mutig hat sie es dennoch getan. Ich schrieb. Jeder Freitag Vormittag war dafür reserviert.

So erfuhr ich, wie sie nach Deutschland kam und wie sie aufgewachsen ist. Ihre Eltern arbeiteten beide und hatten keine Zeit für ihre fünf Kinder. Die Aufsicht oblag zunächst der älteren Schwester, bis diese selbst in der Fabrik, in der auch ihr Vater arbeitete, anfing. Dann war es an Fatma, sich neben der Schule größtenteils um den Haushalt, das Kochen und die Beaufsichtigung der jüngeren Geschwister zu kümmern. Ihren Wunsch Sport zu treiben, in einem Verein mitzumachen, wurde ihr verwehrt. Für ein Mädchen gehörte sich das nicht. Der eine größere Bruder war mit der Aufsicht Fatmas betraut: Da er die gleiche Schule besuchte, überwachte er das Verhalten seiner Schwester.

Mit sechzehn wurde sie in der Türkei arrangiert verheiratet. Bis ihr Mann nach Deutschland nachkommen konnte, genoss sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Freiheit. Bald konnte der Mann einreisen und das gemeinsame Leben begann. Fatma versuchte dies zu akzeptieren. Auch ihre Schwester war so verheiratet worden und die Ehe gelang. Mit ihrem Bruder begann sie zum Kickboxtraining zu gehen, was der Ehemann billigte, solange sie sich um den Haushalt und das gemeinsame Kind kümmerte.

In kürzester Zeit erreichte Fatma durch diszipliniertes Training und ihr großes Talent im Kickboxen und Boxen die ersten Erfolge. Ihre gesamte Wahrnehmung begann sich zu ändern. Durch den Sport und die Anerkennung gewann sie mehr und mehr Selbstvertrauen und Kraft ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Zu einem hohen Preis. Nach der Scheidung von ihrem Mann stand sie alleine mit ihrer Tochter da. Erst viele Jahre später nahmen die Geschwister wieder Kontakt zu ihr auf. Bis dahin schlug sie sich alleine durch.

Ihre Geschichte inspirierte mich zu dem Roman „Fatma“, in dem es um Versöhnung geht und die Erkenntnis, dass man in verschiedenen Ländern seine Wurzeln haben kann.

 

Stefanie Seiler
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