Ich verschlafe, wir verabschieden uns hektisch. Ich lasse ihn in meiner Wohnung zurück. Die Sekunden, bis ich ganz wach wurde, waren friedlich und verheißungsvoll. In keinster Weise peinlich. In Ordnung.
Nachdenklich gehe ich die Treppe runter. Schon in der Nacht dachte ich, dass ich nichts Alkoholisches mehr trinken sollte. Zumindest für einige Zeit. Mein Kopf dröhnt. In pinken Leuchtbuchstaben erscheint in meinem Kopf „Kein Alkohol mehr!“ Das mache ich manchmal und glaube so, mein Suchtpotential in Schach zu halten. Mit den Zigaretten ist mir es auf diese Weise weitestgehend gelungen.
Im Büro langweile ich mich über ein paar Akten, die ich anstarre, während ich überlege, ob und was meinem Magen jetzt zuträglich wäre. Gleich wird Sybilla kommen und die Bestellung für das Mittagessen aufnehmen für all die, die das Büro nicht verlassen werden.
Der Typ, für den ich hier im Büro sitze, ist Anwalt, ein hohes Tier in der Branche, wie es scheint. Er ist ein paar Jahre älter, sportlich und anziehend. Aber er lebt in einer völlig anderen Welt, in die die restlichen weiblichen Angestellten Einlass begehren, ich aber nicht. Ich scheine als Einzige keine Angst vor ihm zu haben. Er neigt zuweilen zu archetypisch patriarchalischen Wutanfällen, die die Belegschaft in Schockstarre versetzen, mich aber völlig unberührt lassen, als wäre eine gläserne Trennwand zwischen mir und dem Rest. Gleich im ersten Monat bekam ich solch einen Anfall mit und konnte nur mit den Schultern zucken.
In den darauffolgenden Wochen legte ich es darauf an und rechnete täglich mit der Kündigung. Als Aushilfskraft ist das schnell passiert. Doch das Gegenteil trat ein: Seitdem behandelt mich die stutenbissige Obersekretärin – im Gegensatz zu allen anderen Aushilfskräften – nicht wie Dreck. Kürzlich bat sie mich ein Anliegen wegen irgendeiner Freizeitregelung dem Chef vorzutragen. Da sagte ich ihr, dass sie ihren Scheiß gerne alleine dem cholerischen alten Mann auseinandersetzen konnte. Für 1000 Euro mehr im Monat würde ich mir das aber überlegen. Ihre Gesichtszüge entgleisten für einen Bruchteil einer Sekunde und ich würde noch heute darauf wetten, dass sie sich ein Grinsen verkneifen musste.
An diesem Abend lud sie mich in irgendeine sehr schräge Bar zu einem Feierabendbier ein: ein spießiges, holzverkleidetes Lokal mit dem Ambiente, das zwischen Kleintierzüchtervereinsheim und Sportlerklubhau rangierte und das bestimmt etwas Abseitiges im Keller verbirgt, von dem ich gar nichts wissen will. Noch heute wundere ich mich darüber und sehe sie mit anderen Augen: Diese tipptopp gepflegte mittelalte Frau, die zum Lachen in den Keller geht.
Ich gähne und schlurfe zur Teeküche, in der vor allem Kaffee geholt wird. Der Chef höchstpersönlich steht am Apparat, Hände auf die Arbeitsplatte gestützt und schaut dem Kaffee zu, wie er dampfend und heiß in die Tasse fließt. Ich stocke kurz, richte mich auf, trete neben ihn, um eine Tasse aus dem Schrank zu holen. „Hallo“.
Er fährt hoch und scheint von weither zu kommen. „Ach, Hallo Frau …?“
„Mildenberger“, helfe ich ihm gütig und nicke ihm zu.
Er lächelt freundlich, nimmt seine Tasse, bleibt aber dennoch stehen, als ich meine in die Maschine stelle. Was will er noch?
„Ja bitte?“, frage ich. Ich glaube, es klingt patzig.
Er sieht an. „Frau Mildenberger“, sagt er und mir kommt es vor, als würde er mich auf seine Liste schreiben. Auf was für eine auch immer. „Möchten Sie auch einen Keks?“ In einer leichten Wende, bei der er mich nicht aus den Augen lässt, nimmt er eine kleine Schüssel mit Keksen und hält sie vor mich. Das Rattern der Maschine verstummt, plötzlich hallt die Stille ungewohnt in meinen Ohren. Die Geräusche des Büros sind im Hintergrund gedämpft.
„Ne danke, ich habs am Magen“, sage ich lahm und denke, ich muss hier kündigen. Bald. Sonst würde ich vielleicht meine Feierabende bald in holzgetäfelten Kaschemmen verbringen.