Nach einem knappen Monat absolutem Rückzug und Schreiben meines neuen Romans bin ich in Frankfurt angekommen. Am frühen Nachmittag spuckt mich der Zug mitten rein ins pralle Leben.
Ich mag Zugfahren, ich mag Bahnhöfe: Wie unter dem Brennglas wird hier offensichtlich, was Sache ist. Dort, wo man gerne drüber schaut, sich hinwegliest oder womit man nichts zu tun haben will. Hier wird offenbar, dass es in Deutschland sehr wohl eine Klassengesellschaft ist, der Feudalismus scheint wie ein altes Gerippe durch. Die Ärmsten der Armen fragen hier um Geld, um etwas zu essen zu kaufen. Obdachlos, heimatlos, ausgebootet durch die verstärkenden Katalysatoren Flucht und Drogen. Selbst verschuldet? Das mit den Drogen? Spielt das eine Rolle, wenn es doch ist, wie es ist? Ob ich mal ’nen Euro habe? Oder zwei?
Diverse Essensgerüche empfangen mich in der Bahnhofshalle. Wieder jemand, der mich nach Geld fragt. Nein, diesmal nicht. In den Unterführungen und hellerleuchteten Treppengängen zur U-Bahn riecht es nach Parfüm, Exkrementen und Pisse. Die die ‚raus‘ sind liegen dort, im Schlafsack oder vornübergebeugt auf einer Bank kauernd, den Kopf in die Hände gestützt. Rettungssanitäter und Polizisten stehen um einen jungen Mann, der am Rand der Rolltreppe im Schlafsack liegt und nicht ansprechbar ist. An ihnen vorbei, der Menschenstrom, ich mit ihnen. Draußen empfängt mich Weihnachtsbeleuchtung an den Gebäuden, die irrwitzigerweise im gleichen Takt blinkt wie das Blaulicht des Rettungswagens, der am Aufgang der U-Bahn auf der anderen Straßenseite bereit steht.
Sprachengewirr umgibt mich, ich folge dem Strom, der in einem Parkhaus verschwindet, um den Weihnachtsmarkt auf dem Dach zu besuchen. Nach ein paar Minuten stelle ich fest: Ich bin nicht die Zielgruppe. Zu alt. Laute Popmusik, viel Gedränge, und kaum eine Chance irgendwas an den Ständen zu kaufen – es gibt eh nur Glühwein und diverse Sachen zum Essen. Wieviel essen muss der Mensch?, frage ich mich immer wieder. Ganz ehrlich: Weihnachtsmarkt für meine Zielgruppe ist erst recht nichts für mich. Ohne Glühwein nicht zu ertragen, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Erleichtert trete ich eine halbe Stunde später wieder den Rückweg an. Der Rettungsdienst ist weg, die Weihnachtsbeleuchtung blinkt weiter, der Mann ist verschwunden. Ich stelle mir vor, wie er jetzt im Krankenwagen liegt, wie er in der Ambulanz versorgt wird, höre das Piepsen der Geräte und denke daran, dass er wahrscheinlich nach ein paar Tagen wieder in der Kälte sitzt oder liegt.
Krasses Gegenprogramm am nächsten Tag in der Ausstellung Lyonel Feininger in der Schirn. Das einende Element zum Vortag: Auch hier Gedränge. Doch wen wundert’s: Sonntag und Regen an einem der letzten Novembertage. So richtig kommt man leider nicht an die Bilder ran. Beim Versuch einfach mal eins auf sich wirken zu lassen, kommt immer jemand dazwischen oder davor: Wohlgekleidet, wohlsituiert, wohlgebildet. Erfolgreich gewesen oder noch immer erfolgreich in den letzten Zügen. Ob sie ihre Leben als gelungen empfinden?
Die Bahnhofsbuchhandlung, die ich am nächsten Tag vor meiner Abreise besuche, scheint nicht nur für mich Zuflucht zu sein, um dem Gedränge, vor allem aber der Akustik der hohen Bahnhofshalle zu entkommen. Doch auch hier Gedränge: Trolleys und schwere Rucksäcke. Reisende, die sich die Wartezeit vertreiben, so wie ich.
Ein durch die vollen Gänge der Buchhandlung irrender Junkie. Irrlichternd, fast schwebend geht er durch die Gänge. Still läuft er ein paarmal an mir vorbei. Der Geruch, der von ihm ausgeht, kommt mir ungewohnt vor. Ich stutze. Die Frau an der Kasse ruft laut, dennoch höflich: „Gehen Sie bitte raus“, offensichtlich sagt sie das nicht zum ersten Mal. In der großen Menge der Kunden im Laden – Bücher betrachtend, in Magazinen blätternd,- ist völlig klar, dass sie nicht gemeint sind, sondern nur er, dieser einer. Der es weiß und genauso irrlichternd und schwebend den Verkaufsraum wieder verlässt. Auch ich verlasse den Laden. Ich bin nicht fündig geworden, doch mir wird klar, was es mit diesem Geruch auf sich hatte: Es war der Geruch nach Mensch. Einfach. Neutral. Nach Haut, nach sich selbst.
Die Akustik der Bahnhofshalle, das Dröhnen der Triebwerke umfängt mich. Vielzahl an Stimmen in vielen Sprachen, scheppernde Ansagen. Volle Bahnsteige, eilende Menschen. Doch dahinter, dort, wo die Züge einfahren, geht die Sonne unter und wirft ihre Strahlen durch die Halle auf alles und alle. Von draußen durch den Lärm der Polizeisirenen das Krächzen von ein paar Raben.